Die Schulmedizin wird stark von alten und überholten Denkmustern und Lösungsansätzen geprägt. Was die Forschung heute an Wissen generiert, kommt oft erst nach zwei bis drei Jahrzehnten in die Hausarztpraxis. Viel Wissen, das für den Patienten von erheblichem Nutzen wäre, findet mangels genügend gutem Businessmodell nie den Weg in die Praxis.

Aber warum warten wir ständig auf neue, noch bessere Behandlungsansätze, wohlwissend, dass diese stark gewinnorientiert sind, meist den Menschen nicht umfassend betrachten, insbesondere Symptome bekämpfen und überdies noch unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringen? Packen wir es selbst an! Am Steuerhebel sitzt der Patient selbst, zusammen mit seinem Therapeuten oder dem Arzt. Voll individualisiert, personalisiert und engmaschig gemessen und geregelt.

Dafür gibt es interessante Denkansätze aus der Industrie, welche ein enormes Potential in der Medizin hätten, dort aber noch kaum Einzug gefunden haben. So beispielsweise das sogenannte Cynefin-Framework, das erklärt, wie man komplexe Systeme optimal steuert und regelt. Komplexe Systeme wie beispielsweise der Mensch mit seinen biochemischen Stoffwechselprozessen.

Wir besitzen dank der modernen Wissenschaft sehr viel Wissen über die menschliche Biochemie. Aber je tiefer wir forschen, umso komplexer werden die Zusammenhänge. Bereits die Erforschung eines einzeln aufgenommenen Stoffes durch den Menschen wirft unbeantwortete Fragen auf: Was an Menge und Energie durch den Menschen aufgenommen wird, kann wissenschaftlich heute nur teilweise bis zur Wiederausscheidung oder zur Energieumsetzung nachverfolgt werden. Wo verbleibt der Rest? Und was, wenn wir, wie über die Ernährung üblich, hunderte und tausende von Stoffen in Kombination zu uns nehmen, die unter sich auch gleich noch interagieren? Was, wenn, wie wir längst wissen, die Biochemie sogar vom aktuellen psychischen Befinden des Menschen abhängig ist?

Das wäre dann genau ein solches komplexes System. Nicht zu verwechseln mit einem komplizierten System! Ein kompliziertes System kann durch einen Ingenieur verstanden und nachvollzogen werden. Betätigt man Steuerhebel X, passiert mit jeglicher Sicherheit die Reaktion Y. Genau das funktioniert bei einem komplexen System eben nicht mehr und das Ingenieurdenken stösst an seine Grenzen. Das Betätigen von Steuerhebel X ist verknüpft mit zig anderen Faktoren, die beispielsweise aus der Umwelt kommen oder durch das Befinden des Patienten selbst beeinflusst werden. Die eigentlich erwünschte Reaktion Y bleibt aus, oder manifestiert sich viel stärker als erwartet, oder es wird sogar eine unerwartete Reaktion Z ausgelöst.

Das Cynefin-Framework ist ein hochperformantes Wissensmanagement-Modell, das verwendet wird, um Systeme zu beschreiben. Der Begriff „Cynefin“ wurde von dem walisischen Gelehrten Dave Snowden gewählt, um die evolutionäre Natur komplexer Systeme zu veranschaulichen, einschließlich ihrer inhärenten Unsicherheit. Das Modell untersucht die Beziehung zwischen Mensch, Wissen und Erfahrung im grösseren Kontext und schlägt neue Wege vor für die Entscheidungsfindung im komplexen sozialen Umfeld.

Aber schauen wir uns das etwas genauer anhand einiger Beispiele an.

Beginnen wir beim Beispiel eines einfachen Systemes (Simple), beispielsweise ein Lichtschalter. Drückt man auf den Knopf, leuchtet die dahintergeschaltete Lampe. Solche Systeme werden nach dem Denkmuster S-C-R, also Sense, Categorize, Respond gesteuert. Übersetzt heisst das, ich nehme das Verhalten des Systemes wahr, ich ordne das wahrgenommene Verhalten ein und kategorisiere es und ich reagiere entsprechend darauf. Wenn immer ich in Zukunft auf den Knopf drücke, geht, vollständig vorhersagbar, das Licht an.

Quelle Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Cynefin-Framework

Beim komplizierten System (Complicated) wird es schon etwas schwieriger. Hier sind die Zusammenhänge zwischen Steuerhebel und Reaktion nicht mehr ganz so offensichtlich, aber noch immer logisch. Hier benötigen wir das Denken und das Wissen eines Ingenieurs im industriellen Umfeld oder jenes eines Biochemikers in der orthomolekularen Regulationsmedizin. Nehmen wir das Beispiel eines Computers. Gibt man die Rechnung 1+1 in den Computer ein, erzeugt dieser das Resultat 2. Dahinter steckt enorm viel komplizierte Hardware und Software. Aber der Computer reagiert ganz genau gleich, egal wie oft man diese Rechnung von ihm verlangt. Das Verhalten des Systemes ist somit eindeutig vorhersagbar, kann analysiert werden. S-A-R, Sense, Analyze, Respond oder übersetzt Wahrnehmen, Analysieren und entsprechend handeln.

Wenn wir das komplexe System betrachten, funktionieren die vorangehenden Denkmodelle (das Ingenieurdenken) eben leider nicht mehr. Ja, sie können gar nicht mehr funktionieren. Das komplexe System reagiert auf tausende unterschiedlicher Einflüsse, die alle miteinander interagieren und sich von Sekunde zu Sekunde verändern. So eben unser Patient! Es geht nicht nur um Einnahmemengen und Zusammensetzungen von orthomolekularen Stoffen. Jeder Patient reagiert auf jeden Stoff anders. Jeder Patient reagiert sogar in jedem Moment anders. Sein persönliches Befinden wie auch äussere Umweltfaktoren beeinflussen die Medikation. Einnahmemengen werden so lange angepasst, bis beispielsweise der dahinterliegende Blutwert stimmt, der Nährstoff also dort angekommen ist, wo er vom Körper gebraucht wird.

Ein komplexes System wie die Biochemie eines Patienten kann nur mehr nach dem Denkansatz P-S-R optimiert und gesteuert werden: Probe, Sense, Respond. Diese Denk- und Handlungsweise ist für Ingenieure, wie auch für Ärzte und Forscher äusserst herausfordernd, widerspricht sie doch komplett der bisherigen Betrachtungsweise. Ich kann nicht mehr einfach 200mg eines Stoffes X verschreiben, weil das in einer Studie mit 1000 Patienten als Mittelwert so funktioniert einigermassen zuverlässig funktioniert hat. Viel eher teste ich einen oder mehrere Stoffe in Kombination und Mengen (Probe), messe und beobachte die Reaktionen des komplexen biochemischen Systemes meines Patienten (Sense) und reagiere zeitnah darauf (Respond), erhöhe oder erniedrige beispielsweise die Einnahmemenge. Das ist personalisierte und individualisierte Medizin des 21. Jahrhunderts! Wir wissen bei weitem nicht alles und unser Patient stellt ein hochkomplexes biochemisches und psychisch beeinflussbares System dar. Aber wir haben genügend performante Denk- und Handlungsansätze, um komplexe Systeme trotzdem steuern zu können. Bedienen wir uns derselben!

Solange wir mit essentiellen, also für den Körper unverzichtbaren, orthomolekularen Stoffen experimentieren, kann dabei bei genügend engmaschiger Betreuung auch nichts passieren. Selbst wenn das System des Patienten nicht wie erwartet reagiert, bleibt genügend Zeit zur Richtungskorrektur. Mögliche unerwünschte Nebeneffekte sind komplett regenerierbar. Die Chancen sind somit grösser als die Risiken, was man von synthetischen Medikamenten nicht immer behaupten kann.

In der modernen Wissenschaft wird versucht, Detailsreaktionen vom übergreifenden Kontext abzulösen und abgegrenzt zu erforschen. Erkenntnisse haben in der Wissenschaft den Anspruch, reproduzierbar sein, damit sie akzeptiert werden können. Die dahinterliegenden Denkmodelle sind uralt und stark mechanistisch geprägt. Sie können komplexen Systemen nicht mehr gerecht werden. Die Wissenschaft spricht dann gerne von „multifaktoriellen“ Problemen, mit denen sie heute fast gar nicht umgehen kann. Es ist höchste Zeit, unser bisheriges Handeln zu hinterfragen und mit besseren und moderneren Ansätzen weiterzufahren.

Beilage und Referenz: Cynefin as Reference Framework to Facilitate Insight and Decision-Making in Complex Contexts of Biomedical Research: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnins.2017.00634/full

Autor: André Wermelinger, 12.2.2019